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Die Treppe ins Nichts

Meine Lieben,

als ich noch viel jünger war, so zwischen 8 und 10 Jahre alt, erschien mir vieles normal was wahrscheinlich nicht normal war.

Der Gemüsehändler schräg gegenüber war in einer Holzbude untergebracht, ebenso der Blumenladen daneben.
Wenn ich Utensilien für die Schule wie Umschläge, Hefte, Tinte oder Blöcke kaufen wollte, ging ich zu Frau Lutz in die Kronprinzenstraße.
Sie hatte sich in einer Holzbaracke eingerichtet, ebenso daneben ein Geschäft für Korbwahren, Bürsten, Teppichklopfer und weiteren Haushaltsbedarf.
Diese Holzbuden standen nicht isoliert, sondern waren Teil des üblichen Straßenbildes, oft zwischen zwei herkömmlichen Häusern.

Wenn man aus dem Eßzimmerfenster meines Elternhauses schaute, blickte man auf ein Trümmergrundstück. Eine Treppe, die auf die gleiche Ebene bis hoch zu uns in den 4. Stock führte, endete in der Luft.
Herr Tim, er arbeitete im Trümmergrundstück, winkte manchmal zu uns herüber wenn er Stück für Stück die Treppe und Mauerreste abbrach.
Uns Kindern hatte man strengstens verboten in diesen Trümmern zu spielen. Mein Bruder hat das dann doch gemacht, was ihm eine Woche Hausarrest einbrachte. 

Mit der Zeit verschwanden dann die Trümmergrundstücke und Bretterbuden auf meinem Schulweg. Der Gemüsehändler zog in ein renoviertes Ladengeschäft und den Schulbedarf kaufte ich zwar noch immer bei Frau Lutz, aber in einem normalen Laden. Als Kind habe mich oft gefragt, warum ziehen die jetzt um? 

Heute am 23. Februar läuten um 20 Uhr alle Kirchenglocken in Pforzheim. Man erinnert sich; nur noch wenige, unter anderem meine Mutter, haben den 23. Februar 1945 bewußt und hautnah miterlerbt.
 327 Bomber der Royal Air Force aus Mittelengland legten in nur 22 Minuten die Stadt in Schutt und Asche. 20% der Bevölkerung, mehr als 17.000 Menschen, starben in diesen wenigen Minuten. Die Stadt war zu 75% zerstört, „ausradiert“ wie die BBC am folgenden Tag meldete.

Meine Mutter war 17 Jahre alt und gemeinsam mit einem Freund auf dem Heimweg vom Kino. Es war schon Voralarm. Eile war angesagt! Sie war gerade noch rechtzeitig zuhause, hat ihre Mutter auf dem Rücken vom dritten Stock hinunter in den Keller getragen und dort dann mit den anderen Hausbewohnern überlebt. Sie hat mir heute von diesen Stunden im Keller und  auch von den anschließenden Tagen nach dem Angriff erzählt!

Es dauerte natürlich einige Zeit, bis eine Stadt, die stärker zerstört wurde als Dresden wieder aufgebaut war. Pforzheim hatte eine sehr schöne historische Altstadtstadt und auch sonst sehr viele Jugendstilgebäude. Wenn man heute die Stadt besucht, findet man eine meist gesichtslose Stadt mit vielen Bausünden der 50/60/70 Jahre. Man hatte keine Zeit sich groß über Schönheit Gedanken zu machen. Wohnraum schaffen hatte Priorität.

Mir war das logischerweise alles nicht bewußt, Baracken, Trümmergrundstücke gehörten für mich zum normalen Kinderalltag.
Und auch über die Art der Gebäude des Wiederaufbaus habe ich mir keine Gedanken gemacht. Ich wuchs dort auf und fand und finde das alles in Ordnung. Mein Stadtbild ist die Erinnerung an meine Jugend und die war chaotisch, abwechslungsreich, spannend und irgendwie selbstverständlich.
Aber es ist richtig, dass man sich heute erinnert und kurz innehält. Sich klarmacht, daß es bei bewaffneten Konflikten nie Gewinner gibt, sondern nur viele Verlierer, Unbeteiligte, Unschuldige, besonders auch viele, hilflose Kinder. Ich habe Bedenken, wenn ich auf die Welt von heute blicke, daß diese sich in eine falsche Richtung bewegt. 

Bei Ovid heißt das „Principiis obsta! Sero medicina parat, cum mala longas convaluere moras“ „Wehre den Anfängen! Zu spät wird die Medizin bereitet, wenn die Übel durch langes Zögern erstarkt sind.“

Ich wünsche euch einen friedvollen Sonntag mit einem Gedanken aus Maximen und Reflexionen von Johann Wolfgang von Goethe 

„Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“

Lieben Gruß aus dem schönen Pforzheim
Papa/Eckhard

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