Meine Lieben,
früher war mehr Lametta, heißt es bei Loriot; ich glaube Opa Hoppenstedt hat das gesagt.
Früher war auch später Advent, der begann am 1. Advent mit der 1. Kerze am Adventskranz.
Früher – behauptet man – sei alles besser gewesen, davon bin ich jetzt nicht so sehr überzeugt, einiges vielleicht ja, aber vieles, vieles auch nicht.
Früher hatte meine Tante Elsa einen Sekretär, er war sogar Geheimnisträger.
Nach dem Tod von Tante Elsa hat meine Mutter diesen Sekretär übernommen, um dessen Arbeitslosigkeit zu vermeiden.
Ich denke, er war ihr dafür zeitlebens dankbar; wie leicht landet so ein Sekretär im Abseits.
Heute leistet der Sekretär mir gute Dienste. Er steht in einer sehr modernen Wohnung in Hofheim und da passt er, als antikes Möbelstück, hervorragend hin.
Vier schmale, gedrechselte Beine, oben sechs kleine Schubladen. Wenn man öffnet, kann man die Schreibplatte herausziehen und dort seine Notizen machen; für Schreibutensilien gibt es auch innen, unter der Klappe, drei kleine Schubfächer.
Warum er bei der Tante Elsa Geheimnisträger war?
Klappt man die Öffnung herunter, um den Sekretär zu verschließen, sind auch die oberen sechs Schubladen gesperrt und man hat einen Safe für alles Mögliche.
In einem dieser Verstecke habe ich das „Classische Vergißmeinicht“ meiner Mutter gefunden.
Das ist ein kleines, in dunkelgrünem Leder gebundenes Büchlein, mit Goldschnitt; auf dem Einband steht „Vergißmeinnicht“ und darüber sind vier kleine, logischerweise blaue Vergissmeinnichts eingeprägt.
Auf der ersten Seite ist eine Widmung in der Schrift meiner Tante Elsa, die ich nur mit Mühe entziffern kann. Nicht weil sie undeutlich geschrieben ist, sondern weil es eine Schriftart ist, die man heute nicht mehr benutzt.
Nein, kein Sütterlin.
Ich habe aber mal für euch nachgeschaut: Das ist die Deutsche Kurrentschrift, kommt übrigens von lateinischen Wort laufen und war eine Schreibschrift; Sütterlin war anscheinend nur eine Unterart dieser Schrift.
Von den Nazis wurde diese und auch Sütterlin 1941 verboten und auf die lateinische Schreibschrift umgestellt.
Also die Widmung in diesem Vergissmeinnicht müsste heißen:
„Meinem lieben Elfchen zur immerfortwährenden Erinnerung, Weihnachten 1933.“ Meine Mutter hat das also von ihrer Tante als Weihnachtsgeschenk bekommen.
Auf der zweiten Seite ist noch eine Widmung, nach einem christlichen, frommen Spruch schreibt die Tante:
„Beim durchlesen dieser wenigen Zeilen mögest du stets mit Freuden verweilen bei deiner dich liebenden Tante Elsa.“
Schön solche wundervollen Widmungen zu lesen; macht man heute viel zu wenig. Früher war nicht nur mehr Lametta, früher war auch mehr handgeschriebenes, ausgedrücktes Gefühl.
Auf jeder Seite in diesem kleinen Büchlein vom 1. Januar bis zum 30. Dezember ist oben das Datum, darunter ein Spruch von Goethe, Lessing, Claudius, Bismarck und sonst irgendwem. Unter den erbaulichen Sprüchen ist genügend Platz, um den Geburtstag eines Familienmitglieds, Freundes eben von jemandem, den man nicht vergessen will, einzutragen.
Die Tante Elsa hat anscheinend für meine Mutter – die war 1933 erst sechs Jahr alt – schon einiges vorgetragen, wie zum Beispiel Oma Riehle am 10. August 1878, oder am 5. Juli 1867 Großvater Otto Hofman.
Meine Mutter hat das kleine Büchlein benutzt, Freunde, Kinder, Enkelkinder, deren Ehefrauen und auch ihre Urenkel eingetragen. Bei Alva – 24. Januar 2014 – steht zum Beispiel folgender Spruch von Theodor Storm:
Ein Gems auf dem Stein,
Ein Vogel im Flug,
Ein Mädel, das klug,
Kein Bursch holt die ein.
Muss ich mal der Alva vorlesen, passt sogar zu ihr!
Ich habe heute mit Freuden in diesem kleinen Classischen Vergißmeinnicht geblättert, habe mich, wenn ich die Namen gelesen habe, an vieles erinnert,
mich mit neuem Wissen angefüllt und hätte gerne meine Mutter noch so viel gefragt.
Wenn ich sie jedoch bat, mal alles aufzuschreiben, was nur sie noch weiß, hat sie meist geantwortet: „Des interessiert doch koin.“
Ich glaube doch und vielleicht sollte ich deswegen wenigstens mal anfangen aufzuschreiben, was ich weiß über mein Herkommen.
Vielleicht interessiert es ja doch jemand und ich denke, es ist wichtig zu wissen, wo man herkommt (zumindest für mich), dann findet man auch leichter heraus, wer man eigentlich ist.
Keine Ahnung, ob euch das heute interessiert hat. Mir hat es Freude gemacht, meine Freude über dieses kleine Büchlein mit euch zu teilen.
Und wenn’s regnet, könnt ihr ja mal Alfred Andersch hervorholen und „Sansibar oder der letzte Grund“ lesen.
Ich wünsche euch einen gemütlichen Sonntag.
Passt wie immer auf euch auf, streitet nicht,
haltet zusammen und ihr wisst ja,
All you need is Love
Lieben Gruß vom See
Euer Eckhard/Papa/Opa
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